Sechs Notizen anlässlich des Nahostkonflikts
Streifzüge 36/2006
von Lorenz
1. Lechts und Rinks
Mangelnde Bildung mag durchaus die mentale Stabilität fördern, wenn man ein Antisemit ist. Voraussetzung ist das jedoch keineswegs. Und beschönigen oder verharmlosen lässt sich damit auch kaum etwas. Die beschwichtigenden Hinweise auf eine gewisse intellektuelle Unbedarftheit des iranischen Präsidenten beispielsweise gehen fehl. Sie erklären höchstens, warum er so leicht verstanden wird, besser als mancher hochdekorierte Akademiker, dessen Analysen mit ein paar Hin und Her dasselbe Ergebnis zeitigen.
Antisemitische Haltungen sind heutzutage gut eingebettet. Antiimperialismus, Nationalismen, eine ganze Palette von Verschwörungstheorien, diversen religiösen, theologischen und esoterischen Gedankengängen und expliziter Antisemitismus liegen in den Hirnen einer großen Masse von Menschen in allen Kontinenten bunt nebeneinander. Sie bilden keine theoretisch und praktisch einigermaßen klar abgegrenzten Positionen, sondern eher ein Kontinuum mit unscharfen Übergängen, Schwerpunkten und Querverbindungen. Und so werben dann metropolitane Linksradikale um Verständnis für Antisemiten im „antiimperialistischen Kampf“.
Der Grund für diese Grenzverwischung liegt im eng gewordenen Feld der Politik, auf dem sich Links und Rechts von jeher tummeln. Je mehr sich das Wirtschaftsgeschehen schon auf der untersten Ebene der Produktion und Verwaltung wie auch des Marketings globalisiert, desto weniger kann demokratische Selbstbeherrschung die kapitalistische Sachlogik mit staatlichen Maßnahmen noch irgendwie lebbar machen. Es geht schon weniger um die Gestaltung des Prozesses als darum, überhaupt noch im Prozess zu bleiben. Je weniger die grundlegenden Gegebenheiten der Warengesellschaft, Arbeit, Markt und Geld, Staat, Nation und Politik, noch eine halbwegs erträgliche Welt ermöglichen, je wichtiger es wäre, mit ihnen Schluss zu machen und ein Leben jenseits dieser Institutionen zu suchen und zu erkämpfen, desto mehr nähern sich alle Vorstellungen einander an, die die Verteidigung oder Wiedererringung der „nationalen Unabhängigkeit“ vom „Imperialismus“ für einen gangbaren Weg halten.
Die Nation ist nicht nur rechts, sondern auch für viele Marxisten ein positiver Bezugspunkt. Bebels Wort vom Antisemitismus als dem „Sozialismus der dummen Kerls“ wird nach der Schoah von Linken wohl nicht mehr wiederholt, das heißt aber keineswegs, dass auch die Vorstellung überwunden wäre, dass der Kapitalismus das Unternehmen eines geldgierigen Menschenschlags sei, der mit „Juden“ zwar schräg, unvollständig und einseitig, aber doch auch nicht völlig falsch definiert sei. Das liegt umso näher, wenn eins die tödliche Gefahr vor allem darin sieht, dass das Geld, das man selber nicht hat, über alle Staatsgrenzen hinweg abgezockt wird und so die Welt destabilisiert, statt dass es – möglichst als inländisches Kapital – unsereinen ehrlich arbeiten und konsumieren macht. Ohne die „Spekulanten“, „Heuschrecken“ und ihre „Knechte“ in den Regierungen, die mit ihren finsteren Plänen Not und Krieg über uns bringen, wäre die Welt, so fühlen es viele, entschieden besser dran, und die Völker könnten wieder friedlich „arbeiten“, „Handel treiben“ und „in Anstand und Würde“ „sich entwickeln“. Dass dann jemand der „Erkenntnis“, dass die Fädenzieher hinter den Kulissen vorzugsweise in Amerika anzutreffen sind, noch die Meinung hinzufügt, diese würden vor allem Namen wie Greenspan und Bronfman tragen, ist sozusagen ein historischer Sog, eine illusionäre, aber eingängige Personalisierung der sachlichen kapitalistischen Struktur. Einen wirklichen „Fort-Schritt“ aus dieser kategorialen Sackgasse gibt es nur noch mit dem Sprengstoffgürtel. Und bei allen Bedenken, die ein linker Antiimperialist noch haben mag, lässt sich dann zumindest klammheimliche Freude nicht unterdrücken, wenn „in the belly of the beast“ Selbstmörder eine Diskothek in Tel Aviv oder Wolkenkratzer in NY samt ein paar tausend Menschen mitnehmen.
Eine linke „antideutsche“ Elite allerdings hat sich vor diesem Grauen auf „die letzten Inseln der Vernunft – namentlich Israel und die USA“ gerettet. Der Kommunismus ist nicht zu haben, dann lieber Boston als Bagdad, eine neue antifaschistische Allianz gegen die islamistischen Barbaren. Statt der Querfront mit Ahmadinejad eine Querfront mit George W. Bush. Bloß ist es gerade diese vielgelobte bürgerliche Aufklärungsvernunft, deren Traum die Ungeheuer gebiert, die heute allenthalben Fleisch und vor allem Blut werden. Und man wird diese nicht los, wenn man nicht mit jener bricht. Gegen irre Rucksackbomber auf rationale Flächenbombardements zu setzen generiert keine neue Logik, es ist bloß eine Entscheidung für die höhere Sprengkraft. Für die Perspektive eines Auswegs gibt „links-rechts“ dort nicht mehr viel her, wo sich beide auf ein Terrain beziehen, das wir nicht mehr wirklich gestalten können, sondern vielmehr verlassen sollten.
2. Um Gottes willen
Der Krise aller Grundlagen der Warengesellschaft seltsam angemessen ist der grassierende Fundamentalismus, insbesondere in seinen islamischen, christlichen und jüdischen Ausprägungen. Diese haben seit dem Verfall des fordistischen Aufschwungs in den Siebzigerjahren schubweise an Bedeutung gewonnen und geben eine eigentümliche Antwort auf die Ausweglosigkeiten der kapitalistischen Entwicklung und auf die Welt- und Lebensfeindlichkeit dieses Systems, indem sie dessen Destruktivität religiös deuten und in ihrer Praxis noch übergipfeln.
Spätestens seit dem Schock vom 11. September 2001 glauben in den USA sechs von zehn Erwachsenen daran, dass sich die Prophezeiungen der Geheimen Offenbarung des Johannes über das Ende der Welt eben jetzt erfüllen, und jede/r Vierte meint, dass die Attentate in der Bibel vorausgesagt sind. Viel weniger diffus als vielmehr eine durchschlagkräftige Lobby ist das einflussreiche Netzwerk von Kirchengemeinden, Fernseh- und Radiostationen und persönlichen Verbindungen in höchste Politik- und Wirtschaftskreise, das die protestantisch-fundamentalistische „Christian Right“ gebildet hat. Unter deren Einfluss stehen zwei von fünf Kongressabgeordneten und auch der „wiedergeborene Christ“ im Oval Office des Weißen Hauses. Für die Prediger und ihre auf bis zu 50 Millionen geschätzte Schar von Gläubigen sind Umweltkatastrophen und Kriege weniger ein Übel, dem eins abhelfen sollte und könnte, als vielmehr Zeichen des Wirkens des Antichrists und damit zugleich ein Zeichen für die erhoffte Wiederkehr Christi. Schon Präsident Reagan mit seiner Rede vom „Evil Empire“ und „Armageddon“ dachte und formulierte in diesem mythischen Nebelfeld, seit 9/11 hat die Erklärungsmacht dieser Mythologie aber noch stark zugenommen.
Trotz der verfassungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat fußt die Nahostpolitik der Vereinigten Staaten nicht bloß auf den ökonomischen und politischen Analysen der Think Tanks, sondern ganz wesentlich auch auf den Überzeugungen des „Christian Zionism“, der in der fundamentalistischen Rechten weit verbreitet ist. Die Gründung des Staates Israel ist für jene Leute ein deutliches Zeichen für die „Fülle der Zeiten“, und die Unterstützung des wieder errichteten Reiches Davids ist Pflicht jedes gläubigen Christen. In der politischen Praxis wird daraus eine islamophobe Lobby, die sich um die Folgen ihres Tuns keine allzugroßen Sorgen macht: „Christ’s coming is near. “
Noch viel virulenter ist derlei Theorie und Praxis in Israel/Palästina selbst. Das säkular-zionistische Projekt eines Judenstaats begeisterte orthodoxe Juden erst, als im Sechstagekrieg von 1967 alle wichtigen biblischen Stätten unter israelische Kontrolle kamen. Der Take off einer national-religiösen Siedlerbewegung zur „Rejudaisierung“ des „zurückeroberten Judäa und Samaria“ datiert aber erst von der Krise des Yom-Kippur-Kriegs von 1973 und dem von den arabischen Förderländern daraufhin ausgelösten Ölpreisschock. Israel war zum ersten Mal militärisch in Bedrängnis geraten, die Wirtschaft steckte in Schwierigkeiten und die Einwanderung stockte. Nur für die zum Gush Emunim (Block der Getreuen) vereinten radikalen Siedler und die in Schulen, Universitäten und Gemeinden in ganz Israel verstreut wirkenden Fundamentalisten gab es keine Unsicherheit und kein Bedenken. Die Gründung Israels 1948 und die Verdrängung der arabischen Bevölkerung in den 1967 besetzten Gebieten bzw. ihre Unterwerfung unter jüdische Herrschaft hat dem Kommen des Messias den Weg zu bereiten und ist daher religiöse Pflicht. Sich dieses von Gott seinem Volk geschenkte Land auch illegal und gewaltsam anzueignen, ist göttlicher Auftrag. Es um des Friedens willen zurückzugeben bedeutet Verrat an den „Plänen des Heiligen“ und muss mit allen Mitteln verhindert werden. Wie weit das gehen kann, zeigt der spektakuläre Mord an dem als Verräter angesehenen Premierminister Rabin 1995. Denn „dort, wo religiöse Pflicht ist, ist jede Moral bedeutungslos… Es gibt hier keine Fragen zu stellen. Die Religion ist absoluter Imperativ“, sagte sein Mörder.
In den USA und in Israel ist der religiöse Fundamentalismus eine Form, wie eins in der herrschenden Ordnung weitermachen kann, indem man jede Ahnung von deren Perspektivlosigkeit und Destruktivität aus dem Bewusstsein löscht und erklärt, dass die Wand, auf die man zurast, der Eingang ins Himmelreich ist. Der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus jedoch entspringt bereits dem Bankrott der Modernisierungsversuche in den muslimischen Ländern.
In den USA stoßen fundamentalistische Lobbies auf beträchtlichen Widerstand, großteils deswegen, weil die zentrale Stellung der Supermacht vielen noch die Illusion von „Business as usual“ suggeriert, was heute allerdings ebenfalls schon einen recht starken Glauben abverlangt. Die israelische Bevölkerung ist in den Überlebensfragen ihrer Gesellschaft seit Jahren tief gespalten. Islamistische Strömungen jedoch haben unter den von der kapitalistischen Entwicklung entwurzelten, in ihrem Stolz gedemütigten und desillusionierten Massen in vielen Ländern einen enormen geistigen und moralischen Einfluss erlangt. Sie stellen gewissermaßen das passende Gegenbild zu den apokalyptisch-messianischen Fundamentalismen in den USA und Israel dar.
Karitativ-soziale Tätigkeit, islamische Schulung und Kritik an der Verkommenheit des Westens und der heimischen verwestlichten Eliten ist ihr Alltagsgeschäft. Ihre Perspektive ist jedoch keine andere Gesellschaftsordnung, sondern die Bestrafung und Ausmerzung der Gottlosen, die durch ihre Amoral den Gläubigen das Leben zur Hölle machen. Amerika ist der Große und Israel der Kleine Satan, die „Weisen von Zion“ sind weltweit die persönlich-berechnende Triebkraft hinter den Demütigungen, die der sachlich-blinde Lauf der globalisierten Verwertung den Gläubigen tagtäglich antut.
In seiner klarsten Form, im Angriff von 9/11 zum Beispiel, hat der islamistische Terror nichts Politisches mehr, er kennt keine Forderung, er ist nicht Mittel zum Zweck, sondern reine Konstruktion und Identifikation von Gut und Böse, bloße Rache, reine Moral und Destruktion. Mit dem Selbstmordterroristen haben die Islamisten ein Waffensystem entwickelt, mit dem sie die Gewalt-Konfrontation mit der westlichen technischen Übermacht einigermaßen offenhalten können. Die geglückte Selbsthingabe des Kämpfers auf seinem ihm bestimmten Abschlachtfeld ist gewissermaßen ein negativ gewendetes Heldentum der Arbeit und die Verehrung der (Selbst-)Mörder eine schwarze Form des Starkults, an den sich alle Fantasien knüpfen, wie eins sich und uns immer gern gerächt hätte, aber nie die Gelegenheit oder den Mut gehabt hat.
Die lokalen und globalen Machthaber müssen versuchen, irgendwie eine warengesellschaftliche Normalität aufrechtzuerhalten und einen Platz auf dem Weltmarkt zu behaupten. (Auch die iranischen Ayatollas können sich dem nicht entziehen. ) Doch die Voraussetzungen dafür werden seit Jahren von der kapitalistischen Entwicklung selber abgefackelt, Milliarden spüren, dass sie ohne Perspektiven, einfach überflüssig sind. Wo dann die „Rächer der Enterbten“ gegen die Weltgendarmerie antreten, liegen Gotteskrieger und Weltuntergang im Trend.
3. Ein Staat zum Überleben?
Die zionistische Bewegung hat nach der Katastrophe der Shoah Israel als einen auf Abstammung basierenden Nationalstaat von Kolonisten als Zufluchtstätte aller Juden errichtet. Von da an begannen sich nationaler Befreiungskampf, Antikolonialismus, Antiimperialismus, arabischer Nationalismus, islamische Ansprüche und vor allem der Antisemitismus an die Existenz des jüdischen Staates wie miteinander verwachsene Kristalle anzulegen. Israel kann sich bis heute gegen die nie überwundene Ablehnung durch seine Nachbarn nur als westliches Bollwerk im Nahen Osten behaupten. Es muss seine Souveränität gewissermaßen auf deren Gegenteil, nämlich die Abhängigkeit von massiver Hilfe der USA, bauen.
Grundlegender noch ist der Widerspruch, dass hier ein Hort für die vom Antisemitismus in aller Welt gefährdeten Juden im System und in der Logik von Weltmarkt und Nationalstaat errichtet werden musste. Genau die dieser Logik entsprechende Lebensweise treibt jedoch permanent Ideologien wie den Antisemitismus hervor, die die Zumutungen der herrschenden Ordnung angeblich erklären und notfalls durch Pogrom und rassistischen Massenmord stabilisieren.
Militärische Gewalt, Vertreibungen, Diskriminierung der arabischen Staatsbürger, forcierte Einwanderungspolitik und Besatzungsregime sind nicht einfach das Ergebnis schlechter Politik. Sie liegen vielmehr in einer Wenn-schon-denn-schon-Logik, die der Konstitution und den Bedingungen dieses Projekts entspringt, die Handlungsmöglichkeiten limitiert und damit zugleich den Zweck der Unternehmung permanent gefährdet und in Frage stellt. So war in den letzten Jahren Israel paradoxerweise jener Ort, wo die Gefahr ermordet zu werden, weil man Jude oder Jüdin ist, größer als in den meisten anderen Gegenden der Welt war. Und es folgt durchaus der Logik der Zustände, dass auch in Israel selbst Antisemitismus der Zu-kurz-Gekommenen aufkommt (vor allem unter Immigranten aus der Ex-Sowjetunion, die mit dem Judentum nur gering oder überhaupt nur per Fälschung verbunden sind).
Der Nationalstaat beruht in Entstehung und Funktion auf Gewalt. In stabiler Lage bleibt diese jedoch meist als allgemeine Drohung im Hintergrund und wird nur gegen Einzelne manifest. Israel hingegen befindet sich seit seiner Gründung und bloß, weil alle Seiten systemkonform handeln, in einer Lage, in der nur tägliche militärische Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung sein eher prekärer werdendes Weiterbestehen gewährleisten können. Bald sechzig Jahre nach der Gründung des Staats gilt jetzt einer Mehrheit der israelischen Bevölkerung der Abbruch der Beziehungen zu den palästinensischen Nachbarn mittels Annexionen, „Sicherheitszaun“ und weitergehenden Militäraktionen als bestmögliche Friedensmaßnahme, während die PalästinenserInnen in freien Wahlen mit der Hamas eine Partei ans Ruder gebracht haben, die mit antisemitischen Parolen und ihrer Verwirklichung in Selbstmordattentaten auf Märkten, Festen und in Bussen für die Zerstörung Israels kämpft.
4. No Future…
Der Abstand zur (wankenden) Wirtschaftskraft und zum (bröckelnden) Konsumniveau des Westens wächst in der ganzen Region, breite Schichten verarmen rapid. Der Irak liegt trotz seines Ölreichtums wirtschaftlich am Boden und steht nach drei Jahren Befreiung und Besatzung am Rande eines offenen Bürgerkriegs. Sogar im Ölland Nummer Eins Saudiarabien sank das Pro-Kopf-Einkommen seit 1980 um 70 Prozent.
In Israel herrscht hohe Arbeitslosigkeit, und die „Gefahr, dass unsere Gesellschaft auseinanderfällt, ist größer als die Drohung durch arabische Armeen, Raketen oder biologische Waffen“ (E. Barak). Die Wirtschaftskraft der Palästinenser hat sich seit der Intifada pro Kopf auf unter ein Zwanzigstel derjenigen Israels halbiert. Die Abhängigkeit der Westbank und des Gazastreifens von ausländischer Hilfe, vor allem von Seiten der EU, der USA und des UNO-Hilfswerks, betrifft fast alle Bereiche des Lebens. Womit ein palästinensischer Staat als „Standort“ in der Weltwirtschaft noch reüssieren und damit eine unabhängige Existenz finanzieren könnte, ist eine Frage für Astrologen.
Ökologisch, vor allem im zerstörerischen Umgang mit den raren Wasserressourcen, ist die Kombination von Warenwirtschaft und Machtpolitik dabei, weite Gebiet unbewohnbar zu machen. Der Glaube an „Entwicklung“ ist längst zusammengebrochen, „Freedom and Democracy“ verwirklichen sich als Besatzungsregime und Terrorkampf. Einen Boom gibt es allenfalls im Drogen-Business (solange die Metropolen dieses illegalisieren). Jedenfalls hat Afghanistan seine führende Stellung bei Opium und Heroin (über drei Viertel der Weltproduktion) seit der US-Intervention deutlich ausgebaut. Auch Pakistan, Iran und Libanon sind im Geschäft. Wohl stärker noch wächst in diesen Ländern allerdings der Konsum. So sollen im Iran schon elf der 68 Millionen Bewohner drogenabhängig sein. Und ein nüchternerer Blick auf ihr Leben lässt die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den arabischen Ländern den Wunsch hegen auszuwandern.
5. … und Bombenstimmung in Nahost
Dieser trüben Stimmung entspricht die Reizbarkeit. Es braucht nicht viel, dass sich Menschenmassen zum Kollektivsubjekt Religion-Kultur-Nation scharen, wann immer diese Identitäten eine neue Demütigung erfahren. Es braucht nur Karikaturen in einer europäischen Provinz-Zeitung, um (eine ziemlich ohnmächtige) Wut in großen Aufmärschen und heftigen Ausschreitungen gegen alles losbrechen zu lassen, was auf gleicher Ebene dafür haftbar gemacht werden kann. Und diese Ebene ist einfach der Westen; und die zionistischen Drahtzieher, versteht sich.
Ungleich dramatischer allerdings ist die anlaufende Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm. Dass dieses zunächst einmal zur weltweit anrollenden Welle der wahnwitzigen Expansion der so genannten friedlichen Nutzung der Atomenergie gehört, wird schon fast nicht mehr wahrgenommen. So sehr prägen die weltpolitischen Querfrontstellungen das Wahrnehmungsmuster auch kritischer Leute. Das Einzige, was noch interessiert, ist der Umstand, dass nach den fünf lizenzierten und etlichen „wilden“ Atommächten nun höchstwahrscheinlich auch der Iran die Bombe bauen will. Die Chancen des Regimes, auch wirklich so weit zu kommen, sind gering. Der Westen, vermutlich die USA und Israel, wird das mit Politik (Krieg ist ein Teil davon) verhindern – ob nun auch Linke dafür Verständnis haben oder nicht. Der eherne Rahmen, der diese Vorgänge formatiert, ist einerseits die Staatenwelt mit ihrem internationalen Recht (das in diesem Fall übrigens mehr für den Iran als für den Westen spricht) und ihrer realen Machtverteilung und andererseits das ökonomische System der Verwertung. In diesem Rahmen ist die Übermacht des Westens längst eingeschrieben und Staaten wie der Iran zu Verlierern gestempelt. Die Logik dieses Korsetts wird daher der islamischen Welt das Erlebnis einer weiteren krassen Blamage bescheren, die „nach Rache schreit“. Und auf Dauer wird dafür keine Mauer zu hoch und kein Zaun dicht genug sein.
Gewinner wie Verlierer agieren auch noch in der Abenddämmerung der Moderne nach dem Spruch des frühmodernen Kaisers Ferdinand I. : Fiat iustitia, et pereat mundus (Es geschehe Gerechtigkeit, und gehe die Welt zugrunde). Und da ihre Gerechtigkeit nicht mehr in die Welt passt, sind sie bereit, diese auch zu vernichten. Die heutigen Fundamentalisten könnten da nur die Vorhut sein.
6. Ein Schimmer von Perspektive?
Natürlich und wem auch immer sei Dank sind Menschen auch ganz anders. Fast alle zumindest ab und zu. Es ist nicht leicht, gegen den Common sense zu handeln – schließlich wirkt der im eigenen Hirn und Herzen auch. Aber wann, wenn nicht jetzt, solange wir leben? Und es gibt sie, die Dissidenten. Aller Marginalisierung durch die „Weltklugen“ zum Trotz. Wer ihre Stärken und Schwächen, Sinn und Unsinn dessen, was sie denken und tun (und wer kann das wirklich so klar unterscheiden? Ich nicht! ) kennen lernen will, kann sie auch im www aufsuchen. Was Israel/Palästina angeht, ist Robert Eisenbergs „Site for Peace and Pleasure“, www.ariga.com, ein guter Einstieg. Und „ariga“ ist auch eine Methode, es heißt „weben“ und „Gewebe“. Unter der Liste von „Human Rights and Peace Groups“ findet sich dort ein herrenloses Motto:
„The army that will defeat terrorism doesn’t wear uniforms, or drive Humvees, or calls in air-strikes. It doesn’t have a high command, or high security, or a high budget. The army that can defeat terrorism does battle quietly, clearing minefields and vaccinating children. It undermines military dictatorships and military lobbyists. It subverts sweatshops and special interests. Where people feel powerless, it helps them organize for change, and where people are powerful, it reminds them of their responsibility.“ Author Unknown
1. April 2006