Verstreute Bemerkungen gegen apokalyptisches Fühlen, Denken und Handeln
Streifzüge 61/Sommer 2014
von Lorenz
Vorstellungen von Zeit und Leben er-leben wir in unserem Alltag. Tag und Nacht, die Mondphasen, der Wechsel und die Wenden des Sonnenlaufs und der Jahreszeiten, das wiederkehrende Wachstum all dessen, wovon wir leben, aber auch die ständige Folge von Tod und Geburt in der lebendigen Natur einschließlich der Menschheit zeichnen uns ein Bild ewiger Wiederkehr. Diese kann sogar den einmaligen Lebenslauf eines menschlichen Individuums einschließen und tröstlich überhöhen – dann vielleicht, wenn hier ein Leben in Fülle Anfang und Ende verbindet, eines, in dem die unausweichlichen Schwierigkeiten und der unvermeidliche Kampf immer wieder zu Leichtigkeit und freundlicher Gemeinschaft zurückgefunden haben.
Möglich, dass das mit dieser Sicht korrespondierende Gefühl übergreifender, freier, unverzweckter Einheit miteinander und mit der Natur über Raum und Zeiten hinweg bis heute noch zugänglich ist. Wir kennen es vielleicht aus (Tag)Träumen, vielleicht auch von Augenblicken der Ekstase als ein „ozeanisches Gefühl“ (Romain Rolland). Freilich entspricht die pathologische Deutung von derlei Gemütszuständen als misslungene Grenzziehung zwischen Ich und Außenwelt (Sigmund Freud) weit eher der seit langem unter den Menschen herrschenden Wirk-lichkeit und Wirk-samkeit.
Die verwirklichte solche Abgrenzung ist die der Herrschaft von Menschen über sich selbst, über ihresgleichen und über die Natur, eine Trennung zwischen dominantem Ich und bloßem Instrument, eine des Menschen von sich selbst, von anderen Menschen und von der Welt. Es ist ein konträrer, wenn auch in den Rollen instabiler und schwankender Zusammenhang von Benutzern und Benutzten. Die Vorstellung von Zugehörigkeit, ja Geborgenheit von allem in allem ist ins Reich der Kunst, der Schwärmerei, des Irrationalen, des Nicht-Praktikablen verwiesen.
Dass der erpresste Nutzen jedoch nicht einmal dem jeweils herrschaftlichen Personal guttun muss, bleibt im Dunklen. Und erst recht die Vorstellung, dass die Unterwerfung der Natur, wie sie schon in den Mythen vom Kampf und Sieg des Herakles gegen Löwen, Eber, Schlangen, Amazonen und andere Ungeheuer besungen wird, kein Segen für die Menschheit ist.
Die Frontstellungen jener Trennungen sind immer in Bewegung, sie sind Kampflinien, die durch jeden einzelnen, zwischen allen Menschen und zwischen ihnen und der Mitwelt verlaufen, sie entwickeln eine gesellschaftliche und individuelle Dynamik von Durchsetzung und Unterwerfung. Diese Dynamik sprengt über kurz oder lang jeden Zyklus, gebärdet sich als stete Entwicklung, als dauernder Fortschritt. Unterdrückung und Widerstand, Kampf um Sieg und Niederlage, Vergewaltigung von allem, was als Natur gilt, sind von Beginn an die Verlaufsform.
In unserer Ecke der Welt beklagte der griechische Dichter Hesiod in seiner persönlichen Verzweiflung schon vor 2700 Jahren die Menschheit seiner Gegenwart als ein „eisernes Geschlecht“. Es sei eine Welt, in der zwischenmenschliche Bindungen, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit nichts gelten, nur Stärke und Erfolg zählen und der Schwache der Willkür des Stärkeren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sei.
Das Institut Herrschaft kann nur stabilisiert werden, wenn herrschaftliche Macht als im Namen von „Gerechtigkeit“ beschränkt und so als im Interesse aller Menschen ausgeübt darstellbar ist, wenn berechtigter Eingriff und Missbrauch unterschieden werden können. Zwar wird der subversive Gedanke, „Gerechtigkeit“ sei schlicht das, was der bestehenden Herrschaftsordnung entspricht und nützt, schon in der Antike formuliert (Thrasymachos bei Platon). Und doch rufen nicht erst seit Hesiod und bis heute Menschen diese Instanz „Gerechtigkeit“ und ihre himmlischen und hiesigen Hüter als ultima ratio an.
Herrschaft ist …
Fast drei Jahrtausende nach dem alten Lehrgedicht könnte nach all den Mutationen der Ordnung von gesellschaftlicher Dominanz der Blick darauf frei werden, dass funktionierende Herrschaft vor allem ein System über- und unpersönlicher Strukturen und Einrichtungen ist, auf der Formierung aller Menschen fußt und die fortgesetzte Praxis dieser Ordnung einfach lebensfeindlich ist. Trotzdem wird bis heute die Herrschaft im Rahmen ihrer Gerechtigkeit kritisiert, im Sinn einer für die Einen besseren Ordnung desselben Typs, die als Freiheit usw. ausgegeben wird. Dabei ist es Umgang mit sich selbst, mit den anderen und mit der Natur – es kömmt drauf an, ihn zu verändern.
Auf dem Boden und im Horizont von Herrschaft lassen sich Gedanken und Vorstellungen von Erlösung, Rettung, Befreiung oder schlicht eines besseren Lebens nur als Rache und Bestrafung, als Ausweg zu Lasten der Anderen, der Bösen und Minderwertigen, kurz: als Gerechtigkeit formulieren. Es geht nicht um Entfaltung des Lebens, sondern darum, was sterben muss. Im abendländischen Europa ist dafür (weit mehr als im Osten) eine „apokalyptische“ Tradition, die sich an das Buch der „Offenbarung des Johannes“ der christlichen Bibel anschließt, zu einer verhängnisvollen Vorlage geworden.
Dort werden die Schandtaten der götzendienerischen und hurenden Mächtigen der Welt und aller ihrer Leute bis hinunter zu den Sklaven an den Heiligen und Gerechten, den christlichen Märtyrern, von den himmlischen Mächten und ihrem Gefolge gerächt. Schritt um Schritt werden Menschen, Tiere, Pflanzen und die Welt selbst von den Sternen oben bis zur Erde hinunter in dramatischer und grausamer Weise vernichtet. Die Seelen der Ermordeten fordern die Rache Gottes und feuern sie an, die Ältesten um seinen Thron lobpreisen ihn, „denn wahr und gerecht sind seine Gerichte“. Die widergöttlichen Mächte und Monster samt ihrem Anhang werden in brennendem Schwefel in alle Ewigkeit gefoltert, die Auserwählten herrschen im Tausendjährigen Reich und wohnen schließlich nach Endsieg und Jüngstem Gericht mit allen Gerechten bei Gott als seine ihm dienenden Knechte auf einer neuen Erde in einem vom Himmel herabgeschwebten, geometrisch vollkommenen, aus Gold und Edelstein gebauten Jerusalem. Die Seligkeit (der Rache) der Einen schreit nach der gerechten Verdammnis der Anderen. Michelangelos gewaltiges Gemälde vom Jüngsten Gericht in der Sistina ist dafür ein eindrucksvolles Zeugnis.
Der hier vorgezeichnete endzeitliche Kampf gegen die Christenheit drangsalierende Ungläubige schlug um in die reale Welt. Schon bei den Übergriffen von nunmehr der römischen Staatsreligion angehörenden Christen gegen verstockte Heiden. Die Ermordung und Zerstückelung der betagten alexandrinischen Philosophin Hypatia im Jahr 415 ist ein blutiges Beispiel.
Einen grausigen Höhepunkt fand solche Praxis in den Kreuzzügen, vor allem im siegreichen ersten. Zigtausende Leibeigene, Ausgestoßene, Leute aus Hungergebieten, auch ganze Familien folgten dem Ruf der Prediger und Hetzer. Die Scharen des Volkskreuzzugs, die sich 1096 als „Wallfahrt in Waffen“ auf den Weg machten, glaubten an ihre göttliche Sendung (Deus lo vult). Sie hofften auf die Vergebung aller Sünden, die sie schon begangen hatten und die sie noch begehen würden, als Lohn für ihren Einsatz für die Befreiung der heiligen Stätten von den gottlosen, mörderischen Heiden, die sie besetzt hielten. Sie verlangten von den Glaubensgenossen unterwegs Verpflegung und Unterstützung für die heilige Sache. Zögern und Weigern provozierte heiligen Zorn und Gewalt. In den Städten ihres Durchzugs kam es zu Pogromen und Massenmorden an den „gottlosen Juden“ und auch an Christen, die sich für sie einsetzten. Selbst Bischöfe und Fürsten, die ihre jüdischen Untertanen zu schützen strebten, kamen in Gefahr. Jerusalem erreichten diese Horden allerdings nicht, die letzten wurden schließlich von den Seldschuken in Anatolien aufgerieben, getötet oder in die Sklaverei verkauft.
Das weitaus besser gerüstete Ritterheer, das dem Zug der Habenichtse folgte, kämpfte sich siegreich durch zur heiligen Stadt und schlachtete dort nach Erstürmung der Mauern im Blutrausch alle Männer, Frauen und Kinder, ob Muslime, Juden oder Christen, deren es habhaft werden konnte. (Caedite eos! Dominus enim novit, qui sunt eius, wird diese Vorgangsweise später im Kreuzzug gegen die Albigenser heißen.) Herren und Trossknechte plünderten, was nur greifbar war, sogar in den Gedärmen der Ermordeten suchten manche nach Preziosen – und eilten dann, von frommem Schauder und Freude ergriffen, zu Gebet und Gottesdienst in die befreite Grabeskirche des Erlösers. Nächstenliebe und die gemeinsame Gotteskindschaft aller Menschen waren suspendiert, die Mission gegen das Böse und seine Brut entschuldigte, ja berechtigte Täuschung, Gewalt und Mord an denen, die ihr Menschsein verwirkt hatten. Und ließ Platz für frommen und freundlichen Umgang mit den Guten.
Die bisher größte historische Katastrophe dieser Konstellation von Fühlen, Denken und Handeln haben Menschen hingenommen, gutgeheißen, angerichtet, auf deren Straßen wir noch gehen, in deren Häusern und Wohnungen viele von uns logieren, von denen die heute Erwachsenen nicht wenige als Verwandte und Bekannte respektiert, ja gemocht haben. Das „tausendjährige Reich“ der Nazis ist eine wörtliche Entlehnung aus dem biblischen Buch. Der Gegensatz von Gläubigen und Ungläubigen hatte sich aber schon über die Konstruktion konkurrierender Nationen zum Kampf biologisch festgelegter Rassen von Herrenmenschen und Untermenschen und dämonischen Unmenschen ins Unausweichlich-Schicksalhafte verschärft.
Im Vernichtungskrieg gegen die slawischen Untermenschen, vor allem gegen die Sowjetunion, sollten diese Massen zur Rettung des Deutschtums „zertreten und abgestochen, abgeschlachtet werden“ (Heinrich Himmler). Auch der millionenfache Massenmord an den jüdischen Menschen Europas im Stil und in der Organisationsform einer Vertilgung schädlicher Insekten und tollwütiger Tiere wurde als „Ruhmesblatt“ der SS und der Polizei, der „rassischen Elite“, zur Rettung des „edlen Blutes“ gepriesen (wieder: Himmler) und von den beteiligten Helden auch so verstanden. Sie marschierten noch vor der industriellen Vergasung in den KZ hinter der Ostfront als disziplinierte Mörderbanden von Dorf zu Dorf und erschossen Aug in Aug mit ihren Opfern mehr als eine Million Babies, Kinder, Junge und Alte vor den Augen der noch auf den Tod Wartenden und mancherorts auch vor der zum Schauspiel angetretenen Bevölkerung samt Schulklassen. Bis das Treiben in Blut erstickt wurde, waren über 50 Millionen Menschen daran elendiglich verkommen.
… desaströs
Doch Strukturen sind zäh. Und elastisch. Die alte Ordnung der Herrschaft der Menschen über sich, die anderen und die Natur hat noch einmal einen Aufschwung genommen. In einer upgedateten Version forcierter, gegen alles andere als Geld blinder Verwertung der Welt und des menschlichen Lebens. Schon für den Sieg über die Barbarei wurden zuallerletzt noch Zehntausende in der Glut der ultimativen Menschheitsbombe geopfert. Die blieb uns erhalten und bedroht unser Leben mittlerweile auch in friedlicher Nutzung. Von den Starken wird demokratisch und humanitär gebombt, für die Menschenrechte gemetzelt. Massenhaft werden Verlierer produziert, die drinnen in der Festung mit Sozialarbeit, Polizei, Militär als einzelne, als Gruppen oder ganze Bevölkerungen notstandsverwaltet, die draußen als Sklaven genutzt, mit Almosen abgespeist, mit Mauern ferngehalten oder im Meer ersäuft, die Terroristen und schädlichen Diktatoren – wieder – mit „Kreuzzug“ (Bush II) überzogen. Die Hobbes’schen Wölfe verbeißen sich einzeln wie in Rudeln heillos ineinander, auf einem Planeten, der durch menschliches Tun zumindest für uns Säugetiere unbewohnbar zu werden droht. – Ohne dass die Guten, die Sieger eben, dann ein himmlisches Jerusalem noch belohnen würde (das nach der Schilderung bei Johannes aber auch nur ein steriles Luxus-Lager für die Knechte Gottes wäre).
Im biblischen Buch Exodus steht, dass Gott „die Schuld der Väter an den Kindern, Enkeln und Urenkeln“ ahndet. Die Geschichte dürfte jedoch weniger barmherzig sein: Die Taten der Ahnen prägen die Einstellungen, das Fühlen, Denken und Handeln ihrer Nachkommen so lange, bis diese sich dem stellen, was da in ihnen wirkt, und sich um-zu-stellen beginnen: Wir wollen nicht uns selber, nicht einander und erst recht nicht die Natur beherrschen. Wir wollen miteinander leben, mit Einsicht und Rücksicht, mit Empathie und Sympathie. Das erst hieße einen neuen Weg bahnen. Erst dann, wenn wir damit etwas anfangen mögen, können wir darauf hoffen, dass ein Leben in solchem Umgang uns „Huld erweist bis ins tausendste Glied“.