Gezeitenplan

Von Hedwig

Es war im Jahre 1971 in der südlichen Bretagne. Gundi und Gerti, zwei junge Studentinnen, verbrachten dort ihren ersten Sommer am Meer, als Au-pair-Mädchen bei mehr oder weniger reichen Familien. Gundi hatte ersteres, eine neureiche Familie, erwischt. Sie verstand sich von Anfang an nicht  gut mit den Leuten; sie gaben sich „herrschaftlich“, ließen sie und die Kinder nicht im Speisesaal, sondern in der Küche essen, den ganzen Tag arbeiten und nachts im Zimmer der drei Kleinen schlafen. Wie dieser unangenehmen Situation entkommen? Zuerst fand sie eine Lösung für die Nacht: Sie schlief im Schlafsack auf dem Balkon, auf den man vom Kinderschlafzimmer aus gelangte. Dann forderte sie mehr Taschengeld oder einen zusätzlichen freien Tag in der Woche. Wenn sie das nicht akzeptierten, würde sie kündigen. Ergebnis: Madame kündigte Gundi. Nun hatte sie jede Menge freie Tage und auch Nächte im Freien! Eichendorff ließ grüßen. Taugenichtsin erwartete eine Reihe von Sonn- und Sonnentagen. Gleich am nächsten machte sie sich nach einer im Park verbrachten Nacht mit Freundin Gerti, die im selben Ort eine weniger reiche, aber dafür nettere Familie gefunden hatte, auf den Weg zur Steilküste um dort einen Badetag zu verbringen. Sonderbar: kaum Menschen am Stand und schon gar niemand im Wasser. Dabei war herrliches Wetter; die beiden waren überglücklich, weil sie endlich frei hatten. Das Meer war wunderschön blau wie im Urlaubsprospekt. Sie platzierten ihre Badesachen in einer idyllischen Bucht mit  Sandstrand und Felsen knapp am Wasser. Oben ohne war gerade in Mode gekommen, so entledigten sie sich der Bikinioberteile – niemand würdigte sie eines Blickes – und stürzten sich mit Begeisterung in die Fluten. Sie schwammen um die Felsen herum, kletterten rauf und sprangen mehr oder weniger elegant kopfüber in die Wellen.

Fast unmerklich war das Wasser höher gestiegen und auch mehr Wind aufgekommen. Von den Felsen, die eben noch im Trockenen gelegen hatten, lugten gerade noch kleine Zipfel aus dem Wasser. Halt gab es nur noch an scharfen Muscheln auf glitschigen Steinen. Gerti, Geigenspielerin, schrie: „Hilfe, meine Finger!“ und ließ sich Brust voran auf die Steine klatschen. Ihre Finger blieben heil. Gundi gelang es auf dem obersten Felsenzipfel zu landen und die Freundin rauf zu hieven. Da sahen und spürten sie die Bescherung: Gertis Abschürfungen auf der ganzen Vorderseite, Gundis auf Fingern und Armen. Und die Bikinioberteile! Sie schwammen weit draußen im Wasser, Gundis Brillen sanken grade noch sichtbar in die Tiefe. Sie stürzten sich gleich wieder ins Wasser um wenigsten die Brillen zu retten; die Tops waren verloren. Die Brille leider auch. Um weitere Schmerzen zu vermeiden, schwammen sie weit hinüber an den Strand und mussten, so ramponiert sie auch waren, die Oben-ohne-Mode tapfer durchziehen. Anders als vorher spürten sie jetzt eine Flut neugieriger Blicke. Hätten sie die Ihren nur rechtzeitig auf die „table des marées“, den Gezeitenplan, gerichtet!

„Salut! Woher kommt ihr denn?“ fragte sie der junge Mann, der sie offensichtlich schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Sie blödelten etwas von Bergen daher und, dass sie aufs Klettern versessen wären. Da meinte er ernsthaft belehrend, sie müssten aufpassen, denn die Flut habe schon so manche unvorsichtige Mädchen verschlungen. Er sei Fischer und habe damit Erfahrung. Sie fragten ihn, ob er ihnen die Gezeiten erklären könne. Ja, das würde er gerne tun. Aber so abgeschürft, wie sie grade waren, wollten Gundi und Gerti nicht sofort auf das Angebot eingehen. Ein Treffen wurde ausgemacht.

Am nächsten Tag war der Himmel noch blauer, das Meer noch anziehender und Gundis Sehnsucht, es zu entdecken, noch größer. Sie wanderte nach einer ungemütlichen Kellernacht zu dem Treffpunkt mit dem Fischer, der jedoch erst am Nachmittag dorthin kommen sollte. Gerti hatte Dienst! Diesmal keine Felsen, sondern flacher Sandstrand, da kann nichts passieren. „Ah, der Leuchtturm nur in ein paar hundert Metern Entfernung! Er ist jetzt bei Ebbe trockenen Fußes zu erreichen. Dorthin werde ich wandern!“ Gedacht getan, machte sie sich auf den Weg; genoss, die weite Sicht aufs Meer vor den kurzsichtigen Augen, den weichen Sand unter ihren Füßen, den Wind in ihren Haaren, die Wärme auf ihrer Haut. Sollten sich doch die andern faul am Strand räkeln! Die Strecke zog sich. Trinkwasser wäre jetzt nicht schlecht, sie bekam schrecklichen Durst. Das Wasser unter den Füßen war salzig. Wie? Was? Wasser? Woher? Die Flut, durchzuckte es Gundi! Also kein Leuchtturm, sondern schnellstens durch das seichte Wasser ans Ufer wandern war angesagt. Das ging ganz leicht, solange es nur bis zu den Knöcheln reichte, aber von Minute zu Minute stieg es höher an, schließlich watete sie bis zum Bauch im Wasser und spürte weder Wind noch Sonne, sondern nur mehr das Brennen des Salzes auf den Abschürfungen. Der verachtete Strand wurde zum Ort der Sehnsucht, den sie nach einer Stunde mühsamen Watens und schließlich schwimmend erschöpft erreichte. Endlich gestrandet, breitete sie sich zum Trocknen in der Sonne aus und wartete auf den Fischer, für dessen Belehrung sie nun wirklich bereit war.

Es wurde Abend, und er kam nicht. Sie musste sich ein Nachtquartier suchen und fand im Hafen ein geeignetes Boot; das Meer war wieder zurückgewichen, sie kuschelte sich in ihren Schlafsack und schlief nach ein paar kurzen, ängstlichen Gedanken an Meeresungeheuer und Wassermänner friedlich ein. Sie träumte vom glutäugigen Fischer, der sie mit aufs Meer hinaus nimmt; bei hohem Seegang weiß er das Boot zu lenken, den Sturm zu bezwingen, Ebbe und Flut zu schaukeln… Da bewegte sich etwas! Das Boot schwankte. Sie wachte auf; die Sonne stand hoch am Himmel, Wasser glitzerte rundum und auf dem Schiffsboden sah sie etwas Weißes leuchten: einen Zettel mit der Aufschrift:„Table des marées“, Gezeitenplan.

Im Kalender 2014 „Sechs Worte und mehr“ erschienen