Die „Konsumismusglocke“

Streifzüge 49 / 2010
von Lorenz Glatz

„Die Konsumismusglocke hängt über dem ganzen Land“, sagt die Dramatikerin Milena Markovic, um die mentale Misere ihres krisengeschüttelten Herkunftslandes zu charakterisieren (Der Standard, 26.5.10). Vielleicht ist der Konsumismus in Serbien deshalb so deutlich erkennbar, weil es den meisten Leuten schon beträchtlich schwerer fällt als hierzulande, mit seinen Ansprüchen, die zu ihren eigenen geworden sind, zurechtzukommen. Für das Phänomen freilich ist Serbien ein Standort wie jeder andere.

Konsum besteht in einer kapitalistischen Gesellschaft (bekanntlich?) nicht einfach darin, dass Menschen Güter und Dienstleistungen für ihre Zwecke und Notwendigkeiten verbrauchen. Zum Konsum gelangt eins über den Kauf von Ware und Dienstleistung, und es ist dieser Kauf, nicht die Befriedigung qua Konsum, der die Verwertung von investiertem Kapital krönt und die Warenwelt am Laufen hält. In einer entwickelten Arbeitsgesellschaft mit dem Lebensrhythmus von Geldverdienen und Geldausgeben muss daher im Schlepptau der Kapitalvermehrung auch der Konsum stets weiter wachsen.

Beim Menschen setzt sich das um als Sucht. Und daher gibt es so wie den Morphinismus auch den Konsumismus. Anders als jener wird dieser aber meist nur dann als krank oder kriminell bezeichnet, wenn der Stoff zwar immer weiter bezogen wird, aber mangels Kaufkraft nicht bezahlt werden kann. Allerdings hat sich dafür seit den Siebzigerjahren im Übergang zu einer globalen Schulden- und Defizitwirtschaft eine temporäre, gesetzeskonforme Lösung für Dealer und Kunden gefunden. In letzter Zeit aber „krachen“ auch in den Metropolen nicht nur Banken und Börsen, sondern auch süchtige Kunden.

Die Sucht des Konsumismus ist ein tief gestaffeltes gesellschaftliches Konstrukt, das als Krankheit auch deshalb nur schwer erkennbar ist, weil es kaum Gesunde gibt. (Und wenn, dann gelten die ziemlich sicher als arm, faul, Loser, zumindest als schrullig.) „Wenn ich schlecht drauf bin, geh’ ich mir was kaufen“ (steht in keiner Zeitung), sagt eine Freundin. Aber anders als bei Alkohol, Heroin und dergleichen ist der Stoff sehr unspezifisch, den eins sich da reinzieht. Irgendwas eignet sich irgendwie bei irgendwem fast immer dazu, dass es flasht und eins für den Moment besser dasteht, vor allem besser als die Nachbarin, der Kollege, die Freundin oder sonst ein Konkurrent.

Idealerweise (und spiegelgleich mit dem Gelingen von Verwertung) ist der Kauf selber schon der Rausch – und vergeht im Handumdrehen nach dem „Schuss“. Denn eine Gesellschaft des Massenkonsums muss sich drauf verlassen können, dass eins bald wieder „schlecht drauf“ ist. Weil das Investieren, Arbeiten, Kaufen und Verbrauchen sonst schwerlich weitergehen kann, ist die in unseren Seelen endemische Unbefriedigtheit, Hektik und Gier so systemkonform wie unverzichtbar.

Freilich nur, solange wir dabei fit im Jobben und Shoppen bleiben. Genau hier aber entwickelt sich die Störung seit Jahren schwunghaft, wie Gesundheitsexperten und Soziologen untersucht, in ihren Studien und Statistiken in Millionenkosten umgerechnet und damit das Phänomen in den Rang einer Wahrheit erhoben haben: Bei langem Gebrauch und permanent wachsender Dosis kippt die produktive Haltung zunehmend in Depression auf dem einen, in Amok auf dem andern Ende um. (Man sehe sich im Netz bloß unter den properen Begriffen um!)

Soweit, wenn die Geschäfte einigermaßen und geregelt gehen, sowie die Staatsgewalt intakt ist. Wo diese Bedingungen schwinden, tut dies die „Glocke“ keineswegs. Entschlossenheit und Verzweiflung nehmen neue Formen an, und erst recht die Gewalt. Und alle drei werden durchaus produktiv. Selbst für den Zugang zu einem gehetzten Sklavendasein in den Metropolen zahlen Menschen auf dem Trikont ein Vermögen, oft in der Aussicht im Meer abzusaufen, aber immer in der Hoffnung auf einen Zipfel glitzernden Prestige-Konsums für sich und die Ihren. Und die blanke Gewalt einer Bande mit Kalaschnikows taugt vielerorts als Besitzurkunde, als verflüssigtes Arbeitsrecht, als Zugang zu Quellen barer Zahlung und vor allem: zum Potenz-Konsum der Metropolen. Wer in diesem Ambiente rausfällt und nicht mitkann, hat oft nicht einmal die Zeit, mit seiner Depression zu leben.

Der Konsumismus wird jedoch nicht bloß von Krise und Erschöpfung der Verwertung und der menschlichen Unzulänglichkeit für diese metaphysische Herausforderung bedroht. Er hat nämlich schlicht nicht Platz auf unserer Welt. Auf dem Niveau der reichen Staaten brauchte er derzeit – auf alle Länder wunschgemäß verallgemeinert, wie es das „Glücksversprechen“ des Marktes als „Entwicklung“ stets verheißt – vier bis sechs Planeten Erde, um zu bestehen, ganz zu schweigen davon, dass er, um sich zu erhalten, immer weiter wachsen muss. Trotz allem Hunger und Mangel auf der Welt reicht der Stern schon heute nicht, wird von Tag zu Tag stückweis erschöpft, verdreckt und auch klimatisch aus einem Gleichgewicht gebracht, das menschliches Leben erst ermöglicht. Großteils absehbar unwiederbringlich.

Und doch: Bei allem Wissen um die drohende Gefahr spürt es sich selbst für kritische Menschen noch immer wie Reichtum und Wohlstand an, wenn man einigermaßen erfolgreich teilhat bei diesem destruktiven und zunehmend schärferen Treiben. Und wie Unfähigkeit und Niederlage, wenn man dabei abgehängt, an den Rand gestoßen, ausgeschlossen wird. Schließlich war es nicht nur im Kapitalismus, sondern vermutlich seit Anbeginn von Herrschaft überhaupt stets die stillschweigende Voraussetzung, dass die Perlen echt sind, um die es geht im sozialen Kampf. Was tun, wenn sie sich als Fälschung, ja Gift zu entpuppen scheinen und doch das Einzige sind, was zählt, was eins sich wirklich vorstellen kann und was immer schwerer zu bekommen ist. – „In der Gesellschaft herrschen Frustration und Konfusion“, wie Frau Markovic feststellt (a.a.O.). Auch das gilt so ziemlich überall und morgen mehr als heute.

Die Gefahr ist groß, dass „Für uns reicht’s schon noch!“ die Losung des Gemetzels in der Katastrophe wird. Für eine menschenfreundliche Lösung braucht es einen tiefen Bruch. Weg mit der Illusion dass sich dazu auf den tief eingegrabenen Fundamenten der Herrschaft noch was bauen lässt. Und vor allem (Ver-)Suche eines angemesseneren Umgangs der Menschheit mit sich selbst und ihrer Mitwelt. Jetzt!