Krise, Mitbestimmen und der Schnee der Inuits
Streifzüge 45/ Frühling 2009
von Lorenz Glatz
Von der sich jetzt entfaltenden Weltwirtschaftskrise habe ich schon in den sechziger Jahren in der Schule gelernt, nämlich, dass es sie nicht geben wird. Und in den Achtzigern hat mir ein hochgebildeter Kommunist (ML) gestanden, dass er es nunmehr auch glaube, dass der Kapitalismus seine Krisen einigermaßen im Griff hat. Und dass dann ein paar Jahre später überall die KPs zerknirscht vor der Marktwirtschaft das Knie gebeugt haben, weiß sowieso jeder. Es war also sehr angebracht, dass sich unlängst in Davos beim Weltwirtschaftsforum einer aus der Chefetage ganz formell dafür entschuldigt hat, dass jetzt alle so enttäuscht sind. Bloß, die Krise selber ist schon gegessen, sie war nicht einmal das Thema der illustren Runde. Die wollten lieber gleich „die Welt nach der Krise gestalten“, mit mehr Regulation, versteht sich, damit sowas wirklich nimmer vorkommt.
Auch im Unterhaus redet man in erster Linie davon, wie wir uns für den nächsten Aufschwung „aufstellen“ und dann dafür sorgen, dass uns so eine Krise wieder „nie wieder“ unterkommt. Bis dahin muss, da sind sich Lohnarbeit und Kapital ganz einig, der Staat „Geld in die Hand nehmen“ – und mit der Bevölkerung als Milliarden- wenn nicht Billionen-Bürgen den ultimativen Bubble aufblasen. An dessen absehbares Platzen denkt lieber keiner. Und Meinungsverschiedenheiten gibt es nur darüber, wie viel „Erhalt der Kaufkraft“ zwischen den Riesenbrocken Bankenrettung und Betriebs„sanierung“ reinpasst. Dabei haben die Gewerkschaften so wie bei der anrollenden Kündigungswelle nicht gerade gute Karten.
Ein Passepartout…
Am meisten wird an den Rändern, so öffentlich es eben geht, davon geredet, wie die Krise zu überstehen und zu überwinden ist. Freilich interessieren mich da nicht die Angstbeißer vom Schulterschluss der „Heimat“ gegen die drohende Fremde. Ich schaue auf die Leute, die von einem Ausweg reden zu einem guten Leben für alle Menschen im Norden wie im Süden, solidarisch und mit Bedacht auf die Natur. Denn zwischen einem Bemühen, das „die Anderen“ als meinesgleichen ansieht, und dem entsetzlichen Aufmarsch gegen Asylanten, Migranten, Ausländer, Heuschrecken, Zocker und immer wieder Juden für Heimat, Nation, Rasse, Standort und dergleichen Katastrophen verläuft die Scheidelinie zwischen einer möglichen besseren Zukunft und den letzten Tagen der Menschheit. Wenn ich mich da jedoch nach einem Weg umsehe im Spektrum von Attac, diversen Kirchen- und Gewerkschaftsleuten, Linksparteien und all den kleineren mehr oder weniger radikalen Initiativen und Gruppen, dann stolpere ich gleich zu Beginn über „demokratisch“. Eine solche „Wende“ brauche es, so müsse umgebaut, kontrolliert, reguliert und ausgerichtet werden. Was? – Das Geld, die Arbeit, die Märkte, die Wirtschaft und die Politik. Und das demokratisch? – Demokratie als Kampf um die Mehrheit bei den Wählern und die Macht im Staat und seinen Institutionen ist ein Passepartout, in das nicht nur Reform wie Revolution reinpasst, sondern mehr noch: Sie ist in der Politik von links bis rechts zum Troubleshooter avanciert für alles und das Gegenteil, woran die Gesellschaft nach jeweiliger Meinung leidet. Wer Demokratie nicht mag, der grenzt sich aus, hat bei den etablierten Rechten so wenig Platz wie bei den Christen, Sozis, Alternativen und den Linken. Und wo immer man sich dazu bekennt, dass das Recht vom Volke ausgeht, behaupten jederzeit zur selben Zeit die einen, dass sie dieses Recht verteidigen, die anderen, dass sie es erkämpfen und die einen es verraten. Das Wort ist leer und sagt nicht mehr, als dass der Staat die Hand drauf haben soll. Wofür es in diesen schlechten Zeiten von links bis rechts eine recht große Mehrheit gibt. Bloß dafür nicht, dass unsere wohlmeinenden Demokraten die Regierung stellen.
… für die Rettung der Essentials der alten Ordnung
Die Demokratie dem Regime von modernem Staat, Geld, Kapital, Markt und Lohnarbeit feindlich entgegenzustellen, tut letzterem Unrecht. Freilich hat es dafür schon einer gewissen staatsbürgerlichen Reife des Proletariats bedurft. Erst als die Proleten auch ihre Arbeit für Profit und Geldvermehrung meinten, wenn sie das Preis-„Lied der hohen Braut“ anstimmten, und den „Volksstaat“ als ihr Ziel ansahen, zog mit ihnen die neue Zeit.
Auf diesem Boden von Staat und (abstrakter) Arbeit konnten sie die Demokratie erringen, denn diese bedeutete dann selbst in der Wirtschaftsdemokratie einer Arbeiterselbstverwaltung nicht mehr als Selbstbeherrschung nach den Regeln eines Weltsystems von Staat, Arbeit und Profit. Ja, „ein guter Arbeiter“ sein zu müssen, ist heute für die Putzfrau so selbstverständlich wie für den Herrn Direktor.
Das angesprochene „Lied der Arbeit“ ist auch weiter aufschlussreich. Es definiert auch schon das Weltverhältnis dieser Arbeit: Sie hat „die Erde sich zum Knecht gemacht“ und „alle Elemente (ge)spannt ins harte Eisenjoch“. Dieses liberale Glücksversprechen von Reichtum und Wohlstand durch die so genannte Zähmung der Natur hat sich – heute unschwer für jeden, der hinschaut, erkennbar – im Zeichen der Kapitalverwertung schwungvoll als blinde Weltzerstörung entwickelt.
Welt ist jedoch nicht bloß „das Andere“, das sich die Menschen durch Arbeit „untertan zu machen“ haben, wie aus der Bibel vorgelesen wird. Sie besteht ganz wesentlich auch aus „den Anderen“. Nicht nur für wilde Tiere, auch für diese gab die besungene Arbeit „Bogen, Pfeil und Spieß“. Und als da noch die Kanonen, Granaten und Gewehre dazu kamen, profitierten auch die europäischen Arbeiter bald ganz flott von der Unterdrückung der Kolonien. Die „vaterlandslosen Gesellen“ zogen als die besten Soldaten der Weltgeschichte in die Kriege ihrer Nationen und schließlich gerierte sich auch das mittlerweile verblichene „sozialistische Lager“ in seinen Pakten und Kriegen genau so wie sein angebliches Gegenteil.
So ist die historische kapitalistische Dreieinigkeit (selbst im realsozialistischen Staatskapitalismus erkennbar) nun einmal verfasst: aus Anlage suchendem Geld, Geld suchender Arbeitskraft und dem von beiden mit Geld ausgehaltenen Organisator, Regulator und Standort Staat. Dieser Komplex entwickelt sich in einem erbarmungslosen Wettlauf um Profitabilität, um die optimale Vermehrung investierten Kapitals, um das endlose Wachstum des Gelds. Und das muss man der Demokratie lassen: Sie ist nirgends stärker und angesehener als dort, wo dieser Prozess am längsten, effektivsten und erfolgreichsten war, ja sie ist noch in der tiefsten Krise die Trumpfkarte der Alteingesessenen in dieser globalen Verdrängungskonkurrenz. Schließlich ist Demokratie realiter der Ausdruck davon, dass alle Beteiligten von den Verhältnissen nicht bloß mitgezogen werden, sondern sich von dem Kakao, durch den man sie zieht, auch noch satt zu trinken versuchen (müssen).
Es liegt eben an der Konstitution dieser Demokratie: Solidarität und Kooperation kommen im Getriebe der Verwertung nie den Menschen zugute, sondern (wenn überhaupt) den einen gegen die anderen. Bei den Rechten steht das schon länger im Programm. Die Linken mausern sich meist erst dann, wenn sie mit Hilfe der Demokratie in Vertretungskörperschaften und in staatliche Schaltstellen kommen, zu Realpolitikern. Die Fundis sind dagegen, sie wollen Konkurrenz wie auch die Klassen abschaffen. Das halte ich für völlig richtig, bloß ist es hilflos, von Verrat an der wahren Demokratie zu reden; denn Konkurrenz gehört wesenhaft zur Demokratie, die als Staatsform jene zu verwalten und zu regulieren hat.
Demokratie und Mitbestimmen
Wo wir Schnee wahrnehmen, sehen Inuits mehr als ein Dutzend ganz verschiedener Dinge. Ohne diese Unterscheidungen könnten sie in ihrer Umwelt gar nicht existieren. Es empfiehlt sich aus demselben Grund, auf Demokratie und Mitbestimmen wie jene Nordländer auf den Schnee zu schauen. Vermutlich meinen die meisten Leute mit Demokratie schlicht, dass wir was mitzureden und zu bestimmen haben, wenn es um unser Leben geht. Was da aber ganz demokratisch so herauskommt in den vorgesehenen Bahnen von Arbeit, Geld und Konkurrenz siehe oben. Das haben die Leute aber kaum gemeint.
Mitreden, Mitbestimmen ist vielleicht eben eine ganz andere Sorte Schnee. Das Konkurrenzsubjekt, der Nutzenmaximierer homo oeconomicus ist kleiner als das Individuum, das sich in diese Rollen zwängt. Wir können und tun täglich auch anderes. Ja, die meisten Menschen würden wohl ihre Geburt nicht überleben, wenn sie nicht einfach gepflegt würden, weil sie wer mag, sich ihnen verbunden fühlt und nicht nach Interesse und Nutzen kalkuliert oder durch Recht, Strafe und sozialen Druck dazu gezwungen werden muss. Nur so ist in Wahrheit auch unser Alltag aushaltbar, denn die Menschheit kommuniziert gewissermaßen „artgemäß“ nicht bloß als Arbeits- und Geld-Zusammenhang, sondern darunter, darüber, darinnen und vor allem daneben auch als ein Gewebe sozialer Verbundenheit. Das Institut der Herrschaft von der Entstehung des Patriarchats bis zur unpersönlichen Diktatur des Werts hat dieses Gewebe immens strapaziert, völlig versachlichen aber kann es unsere Beziehungen aber höchstens mit der Ausrottung der Menschheit. Was die Herrschaft freilich auch nicht überlebte.
Mitreden, Mitbestimmen darüber, wie wir aus der grassierenden Weltkrise unserer Lebensweise herauskommen, kann und soll daher auch den Bruch mit dieser meinen, dass wir nach einer Gestaltung der Beziehungen unter unsresgleichen suchen, die mit den Zwängen der siamesischen Zwillinge Staat und Wirtschaft brechen: Absprache und gegenseitige Hilfe statt Markt und Kapital, Solidarität und Kooperation statt der, nicht für die Konkurrenz (Vorstellungen übrigens, die in nuce schon im Widerstand gegen den Frühkapitalismus auftauchten und zum Fundus dessen gehören, woran heute angeknüpft werden kann). Die Elemente eines nicht geld- und warenförmigen, sondern mitmenschlich freundschaftlichen Umgangs sind unter uns aufzufinden, sie sind fragmentiert, in ihrer Reichweite oft beschränkt, sie werden zerstört, entstehen aber hier und da immer wieder neu. Sie organisieren sich auch, von der Freien Software über Solidargenossenschaften bis zu egalitären comunities und vermutlich manchem anderen, von dem ich gar nichts weiß. So winzig diese Dinge auch sind, nur sie können uns eine Vorstellung geben von dem, was möglich ist.
Es wird Zeit
Wir Menschen sind – als Art wenigstens – ziemlich flexibel und kommen auch mit den trüben Verhältnissen, die wir uns eingebrockt haben, viel länger, als uns gut tut, irgendwie zurecht, indem wir diese und uns selber so weit verrenken, wie es nur möglich ist. Im historisch anstehenden Fall allerdings wird der Spielraum dafür umso enger, je mehr sich die totalitäre Logik der kapitalistischen Verwertung in die Realität entfaltet und alle Bereiche von Natur und Mensch sich einzuverleiben zu nehmen versucht.
Die kapitalistischen Krisen haben ihre tiefste Grundlage immer schon im Gegensatz zwischen der Unendlichkeit der Kapitalbewegung und der Endlichkeit des Menschen und seiner Welt. Mit den sich vertiefenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals, den sich anbahnenden ökologischen Katastrophen und der sich abzeichnenden Rohstofferschöpfung bekommt die jetzt anlaufende Krise unserer Lebens- und Wirtschaftsweise einen Hauch von Endgültigkeit.
Die Reaktion der Menschen tendiert bei übermäßigem Druck zu den Polen deprimiert und ausgerastet. Der gewalttätige Kern der Konkurrenzverfassung unserer Gesellschaft drängt jetzt auch in den Metropolen an die brüchige Oberfläche. Auf den gegebenen Grundlagen folgt hier logisch „Rette sich, wer kann“ und „Jeder ist sich selbst der Nächste“, Fremdenhass, Rassismus, Antisemitismus. Die Krawalle in vielen Ländern und der Vormarsch jener Gesinnung in der Politik sind da bloß ein Anfang. Da lässt sich nichts mehr demokratisch umbauen, kontrollieren, regulieren und ausrichten, dieses Ding von Gesellschaft muss demontiert werden, damit Menschen Platz haben und gut leben können.
Natürlich heißt das auch noch, Wirtschaft und Politik zu machen, vor allem gegen die ungeheuren Zumutungen, die zur Rettung des Systems unternommen werden. Aber auch hier werden wirkliche Erfolge nur erreicht werden, wenn wir einer Perspektive der Abschaffung alles dessen, was uns und der Mitwelt schadet, der Stilllegung und der Beseitigung aller Grundlagen des Systems folgen. Es geht um nichts Geringeres als die Abwicklung des Kapitalismus. In uns selber im Denken und im Fühlen, in den Vorstellungen davon, was gutes Leben heißt. Und im Streit um den Zugang zu den Ressourcen, die wir dazu brauchen. Transformation!