Von Hedwig
Auf dem Bahnsteig vor der Abfahrt meines Zuges: Menschentrauben vor den Waggontüren, vor mir steigen gerade Großeltern mit Enkerln und junger Frau die Stufen hinauf. Opa und Gepäck sind schon im Zug, Oma schiebt die Kinder gestresst vor sich her, ruft laut die Sitzplatznummern aus, obwohl Opa schon an Ort und Stelle Koffer und Kinder platziert hat. „Da, die via Plätz san unsare, mia ghörn alle zam!“, höre ich von drinnen. Die junge Frau steht noch mit traurigem Blick im Gang dicht neben Oma. Ist sie die Schwiegertochter? Oder das Kindermädchen? Sie hat die schwarzen Haare straff zu einem Zopf gebunden; ist von zarter, ja schmächtiger Statur, trägt eine unauffällige dunkle Hose und ein helles T-Shirt sowie eine Tasche um den Arm. Warum redet sie nicht mit der älteren Frau, obwohl sie sich so an sie drängt? Hatten sie gerade Streit? Plötzlich sehe ich ihre Hand in die Umhängetasche der Oma greifen. In meinem Kopf legt sich ein Schalter um, ich reagiere schnell wie sonst nie; rufe über den Kopf der jungen Frau hinweg: „Passen Sie auf Ihre Tasche auf!“ Die junge Frau zieht ihre Hand zurück, schüttelt heftig den Kopf und sagt leise: „Nein, ich nix habe.“ Oma greift nach ihrer Tasche: „Oje, die ist wirklich offen. Ich mach sie doch sonst immer zu.“ Sie findet ihre dicke, rote Geldbörse, zieht sie heraus: „Gottseidank, nichts ist passiert! Danke, dass Sie mich gewarnt haben“, sagt sie an mich gerichtet. Die junge Frau schaut noch verschreckter drein als eben noch. Ichergreife meinen Koffer,erklettere die Stufen, steige ein, blicke mich um: sie ist weg. „Achtung eine Durchsage: Es befinden sich Taschendiebe im Bahnhofsbereich. Vorsicht ist geboten!“, dröhnt es aus dem Lautsprecher.
Die Familie erzählt im Abteil lauthals und mehrmals von dem erfolgreich verhinderten Diebstahl. Alle haben ihre Plätze dort eingenommen, wo sie hingehören. Der Zug fährt ab. Die junge Frau bleibt draußen. Alles in Ordnung. Ja, in der Ordnung, wo Geld das Um und Auf ist. Da gehören eben Leute wie die junge Frau als Diebe mit dazu. Oder als Sträfling oder als Bettlerin.
In den „Streifzügen“ veröffentlicht.