22.10.
Treibende Kraft für eine Reise nach Berlin im Oktober war Lorenz, der vor allem Streifzüge-Leute besuchen wollte. Ich war auch dafür, obwohl ich eigentlich immer nur nach Paris möchte. Wir fanden erst nach längerer Suche sympathische Partner in Berlin Karow – noch etwas weiter nördlich als Pankow -, mit denen wir einen nicht-simultanen Tausch ausmachten. Ingrid und Hans holten uns vom Flughafen ab, führten uns in ihr hübsches Haus mit großer Terrasse und Garten, erzählten uns gleich, was sie alles selbst gebastelt haben: die Terrasse, die Küche usw.
Schon bald erfuhren wir von ihrem Werdegang zu Gesamtdeutschlandbürgern: Abwicklung als Physikerin von der Akademie der Wissenschaften und als Ingenieur aus einem Industriebetrieb, Umschulung bzw. völlige Neuorientierung, viel Arbeit im neuen Beruf, viel Einsatz in Haus und Familie für Hans. Jetzt sind sie in Pension und verbringen die Winter in Asien.
Nicht nur in diesem Gespräch ging es um Ost-West-Beziehungen und deutsche Geschichte, sondern in fast allen Begegnungen kam das zur Sprache.
Bald nach der Ankunft machten wir uns mit den Rädern auf den Weg ins Zentrum. Vorbei am Prenzlauer Berg, jetzt ein schön-schickes Wohnviertel, gelangten wir nach einer Stunde zum Alexanderplatz. War es ein Zufall, dass das erste Denkmal, an dem wir vorbeikamen, das von Marx und Engels sein sollte?
Rund um den Alexanderplatz ist grade eine riesige U-Bahnbaustelle, daher der Aufenthalt weniger angenehm. Lorenz wollte auf den Turm hinauf; wir reihten uns in die Warteschlange ein; plötzlich überfiel mich meine alte Liftpanik. Nein, unmöglich, doch nicht durch die finstere Röhre hinauf in die schwindelnde Höhe. Armer Lorenz! Ich bedaure ihn und mich um den herrlichen Ausblick, den wir an diesem sonnigen Herbsttag auf die Stadt gehabt hätten.
Wir genossen aber dann, so gut es nach dem wegen meiner Panik natürlich einsetzenden Stimmungsverfall ging, das Radeln vorbei an allen Sehenswürdigkeiten und an den Mauerdenkmälern. Ecke Ackerstraße/Bernauerstraße machten wir Halt bei der Gedenkstätte Berliner Mauer, wo man in Stelen eingebaute Videos über Errichtung und Fall der Mauer sehen kann. Dort ist auch das Gelände der Gedächtniskirche, die ja 1987 abgerissen wurde, der Erinnerung gewidmet. Meine Erinnerung an diese Ereignisse, von denen ich doch gehört und gelesen haben sollte, ist leider sehr schwach. Litt ich damals auch schon unter Bewusstseinstrübung? Stimmungshebend waren diese Stätten und die dazugehörenden Gedanken freilich auch nicht.
Abends trafen wir uns mit Stefan, einem Streifzügekolumnisten, und seiner Frau Heike, die vor einigen Jahren bei uns in Wien waren, in einem indischen Restaurant. Im Gespräch tauchte wieder die Frage nach Ost/Westvorurteilen auf. Ja, die gibt es jede Menge. Eine Freundin von Heikes Tochter, aus Bayern nach Berlin kommend, will zum Beispiel keinesfalls im Berliner Osten wohnen. Warum? Das klinge nicht gut!
23.10.
Am zweiten Tag fuhren wir mit Ingrid und Hans per Auto ins Zentrum; unser Ziel: „Topographie des Terrors“, eine Ausstellung und ein Gelände, „auf dem sich zwischen 1933 und 1945 die wichtigsten Einrichtungen des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparates befanden: die Zentrale der Geheimen Staatspolizei, die Reichsführung-SS und der Sicherheitsdienst (SD) der SS sowie ab 1939 das Reichssicherheitshauptamt…. 1987 wurde eine Dokumentation eingerichtet, die seitdem über die Geschichte des Ortes und die von hier aus veranlassten Verbrechen informiert…. Aufgaben: die Vermittlung historischer Kenntnisse über den NS-Terror und die Anregung zur aktiven Auseinandersetzung mit dieser Geschichte sowie ihren Folgen nach 1945.“ (Prospekt Topographie des Terrors)
Jede Menge Schüler- und Studentengruppen werden durchgeführt. Ein Museumsführer erzählt folgende Geschichte: 500 Polizisten wurden 1943 in den Osten verschickt, um dort Massenhinrichtungen durchzuführen. Vor der Abreise ließ der Kommandant sie antreten und erklärte ihnen ihre Aufgabe: Erschießungen. Das sei keine leichte Sache. Wer es sich nicht zutraue, solle einen Schritt vortreten. Wieviele taten das? 12 von den 500 Polizisten. Und was geschah mit ihnen? Wurden sie erschossen? Nein, keineswegs. Es war also möglich, dem äußersten Terror Widerstand entgegen zu setzen, allerdings unter Verlust von Freundschaften und mit der Missbilligung von vielen aus sozialen Umfeld, erklärt der äußerst kompetente Experte. Und Karriere machte man dann auch nicht mehr.
Danach gingen wir durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das Stelenfeld mit den 2711 Betonquadern. Schon am Tag davor sahen wir, dass junge Leute auf den Stelen herumkletterten, was natürlich verboten, aber sicher schwer zu verhindern ist, da die Quader zum Turnen einladen. Sind sie also sinnvoll? Erreichte man damit den Zweck des Gedenkens?
Beim Durchgehen bin ich schon sehr beeindruckt und bewegt. Sie erwecken ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Schwere. Schon der Ort der Information unter dem Stelenfeld – die Stelen sind an der Decke mit Kassetten markiert oder setzen sich bis knapp über dem Boden fort – ist sehr eindrucksvoll, und erst recht die Ausstellung über die Verfolgung und Vernichtung. Es werden auf großen Tafeln Familienfotos und Namen gezeigt. Dabei steht, wer getötet wurde und wer überlebte. Es sind die persönlichen Aussagen in Briefen und Postkarten von Menschen, die unmittelbar vor dem Tod in den KZs oder Gefängnissen noch eine Nachricht an ihre Familie oder Freunde hinterließen, die oft auf abenteuerliche Weise erhalten blieb. In einem abgedunkelten Raum sind auf dem Fußboden die Texte zu lesen, und dazu kann man über den Audioguide die Aussagen hören. Unbeschreiblich berührend.
Über den Gendarmenmarkt, vorbei am deutschen und französischen Dom gehen wir durch das Nikolaiviertel. Wieder finden wir uns am Alexanderplatz und später noch im grellen Abendlicht zuerst bei der Ausstellung Berliner Themenjahr 2013 „Zerstörte Vielfalt“ am Lustgarten.
Abends essen wir im DDR-Restaurant. Daneben gibt es auch ein DDR-Museum. Naja, wegen dem Essen sollte man dort nicht hingehen. Wegen der Nostalgie?Davon erkennt man an allen Ecken und Enden etwas. Ein Wunder?!
Am 24.10., Donnerstag,
geht es per Rad und S-Bahn zuerst zum Gropius Bau, wo Lorenz die Ausstellung „Auf den Spuren der Irokesen“ besucht, weil diese gefürchteten Krieger und begnadeten Diplomaten, ursprünglich beheimatet im heutigen Staat New York, eine Gesellschaft hatten, in der die Frauen viel zu entscheiden hatten.
Ich besuche im selben Bau die Ausstellung „Retrospektive Meret Oppenheim“ anlässlich ihres 100. Geburtstages, wichtige Vertreterin des Surrealismus. Vor allem beeindrucken mich „ihre emanzipatorische, nonkonformistische Haltung sowie ihre kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Festschreibungen und zugewiesenen Geschlechterrollen“. Sie schrieb auch poetische Texte, die mir teils sehr gut gefallen.
Beide bedauern wir, zu wenig Zeit für die Ausstellungen eingeplant zu haben. Denn am Nachmittag ist die Lesung im Rahmen des sogenannten Tagebuchtages im Alten Rathaus von Johannisthal, einem Teil von Köpenick, zu der ich eingeladen bin. Wir bilden uns ein, mit dem Rad hinfahren zu müssen, nicht wahrnehmend, dass Berlin größere Ausmaße als Wien hat. Es ist auch wirklich ideales Wetter, aber trotzdem zu wenig Zeit für die lange Strecke. Und eine Lesung von 15h-17h ist für uns eine ungewöhnliche Zeit. Wir kommen ein wenig zu spät, aber hören im schön restaurierten Festsaal noch ausreichend autobiographische Texte über die „Musikerinnerungen in den Lebensgeschichten Ost und West“. Dazu gibt es auch Musikbeispiele zu hören, gespielt von einer Einmannband: stramme DDR-Lieder, bei denen einigen älteren Damen und Herren die Augen nass wurden, aber auch Schlager wie „Siebzehn Jahr“… und „Moonlight“. Zum Abschluss durfte ich den in Wien erschienenen Kalender „Sechs Worte und mehr…“ mit Schreibanregungen für 2014 vorstellen. Wir plauderten dann noch mit Frau Karin Manke, der Veranstalterin der Lesung. Sie war Buchhändlerin in der DDR und spezialisiert sich heute auf das Schreiben und Herausgeben von Büchern über das Verhältnis von Ost und West früher und heute. Sie versucht die Menschen zum Schreiben und Reden zu bringen.
Abends gehen wir zum „Berliner Ensemble“ ins altehrwürdige Theater am Schiffbauerdamm. „Don Juan kommt aus dem Krieg“ von Ödön von Horvath wird gespielt. Es gibt eine Einführung vor dem Stück, in der wir die Frage hören, warum man dieses eher unbedeutende Stück hervorgeholt hat, aber keine wirklich schlüssige Antwort bekommen. Der abgetakelte Held, dem aber die Frauen immer noch nachlaufen, er will aber gar nichts mehr von ihnen wissen, trauert nur einer Geliebten aus Vorkriegszeiten nach, die er verlassen hat und die dann ins Wasser gegangen ist.
„In jeder Frau sucht der Verführer Don Juan die ,Eine‘, seine tote Braut. So erlebt er – während der Inflation – eine Inflation von 35 Frauen. Wirklich geliebt wird er von keiner. Seine Liebessehnsucht lässt ihn vereisen“ (Prospekt)
Am 25.10.
mache ich einen Heimvormittag und Lorenz trifft sich wieder mit einem Streifzüge-Autor. Nachmittags fahre ich zu Johanna Rosen, einer Servas-Bekannten, die sich am Weißensee in einer sehr schönen Gegend eine funkelnagelneue, sehr hübsche Wohnung gekauft hat. Sie erzählt mir auch von ihrer Familiengeschichte, jüdischer Vater in der NS-Zeit verfolgt, dann mit der ganzen Familie, Johanna als Siebenjähriger, geflüchtet aus dem Berliner Osten in den Wsten 1957.
Gemeinsam fahren wir dann nach „Kreuzköln“ zur Lesung einer Frau, die Lorenz auch als Autorin der Streifzüge kennt.
2 Novellen in Anlehnung an Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, literarisch für mich anregend (aha, das könnte ich auch versuchen!), aber anstrengend, weil der tragische Ausgang von vornherein gewiss ist.
Danach sind wir von Johannas Mann Knut, Psychotherapeut und Maler, zum Abendessen in einem Kreuzberger ehemaligen Kinderladen-Haus eingeladen, 5. Stock ohne Lift, geräumiger Dachausbau mit Terrasse aus den 80er Jahren. Sehr angenehme Gespräche!
Später probieren wir aus, wie lange man nachts in Berlin mit Öffis unterwegs sein kann. Um 00h45 fuhr kein Bus mehr von unserer S-Bahnstation nach Karow. Kein Problem, wir wanderten zu Fuß durch nur mehr zum Teil verbautes Gebiet vorbei an Wiesen und Feldern in die Straße 46.
Um 01h15 waren wir zu Haus und mussten noch die Katze füttern.
Am 26.10., Samstag,
gehen wir nochmals in unsere Ausstellungen im Gropius Bau. Ich sehe mir den Film über und mit Meret Oppenheim von 1978 an, in dem mir als eigenartig auffällt, dass die Künstlerin, ihre Kleidung, ihre Kurzhaarfrisur, ihre Gestalt, ihr Gesicht, aussieht wie eine Frau von heute, aber rund um sie sind die Farben und Formen der 70er Jahre zu erkennen.
Abends gehen wir in die Oper „Cosi fan tutte“, allerdings im Proberaum, der Tischlerei, wo an drei Abenden verschiedene Inszenierungen des Stücks von jungen Künstlern geboten werden, ein Projekt der Grazer Kunstuni. Dabei wird alles hinterfragt, „was eine Inszenierung unserer Zeit üblicherweise ausmacht: das psychologische Einfühlen in eine Rolle und eben das Erarbeiten eines „Konzepts“, einer bestimmten szenischen Interpretation für ein Stück“ (Berliner Morgenpost). Die Musik war jedenfalls nicht umzubringen, wunderbare Stimmen und eine befremdliche Ausstattung machten die Aufführung sicher zu etwas ganz Besonderem. Die Sänger berührten einander nicht, schauten einander nicht an, sangen ins „Leere“, aber dank Mozart war es doch wundeschön anzuhören.
Am 27.10., Sonntag,
fuhren wir an den Müggelsee um dort wieder eine Mitarbeiterin der Streifzüge zu besuchen. Vorher gingen wir noch ein wenig spazieren, doch der Wind und ein wenig Regen trieben uns in ein schönes Restaurant mit französischer Küche, Lorenz blickte jedoch sehnsüchtig zu den Currywurst- und Bierbuden, die noch aus DDR-Zeiten zu stammen scheinen.
Am 28.10., Montag früh 8h, Abreise von Karow. Mit dem Taxi und ein wenig Angst, ob sich das ausgehen wird, gelangten wir durch den dichten Morgenverkehr rechtzeitig zum Flughafen und waren um 13h in der Josefstädterstraße.